Imrich Matyáš (1896–1974)
Foto: Imrich Matyáš, Quelle: Iniciatíva Inakosť archive via Wikipedia Commons
Veröffentlichte in „Hlas“ unter seinem Klarnamen.
Imrich Matyáš wurde am 24. April 1896 in Bratislava, der heutigen Hauptstadt der Slowakei, geboren. Nach dem Besuch einer höheren kirchlichen Schule in Böhmen leistete er die Wehrpflicht im Ersten Weltkrieg und arbeitete anschließend als Angestellter in der Sozialversicherung bzw. im Rentenamt seiner Geburtsstadt.
Nach eigenen Angaben wurde Imrich Matyáš von einem rumänischen Offizier, der ihm im Ersten Weltkrieg das Leben rettete, zum Aktivismus inspiriert. 1919 beschloss er, sich für die Gleichberechtigung von Homosexuellen in der Tschechoslowakei einzusetzen. In einem späteren Artikel für die Zeitschrift „Hlas“ schrieb er, dass ihn vor allem das Wirken von Magnus Hirschfeld und Kurt Hiller sowie die Werte von Solidarität und Gerechtigkeit, die beide in ihren Schriften vermittelten, geprägt hatten.
Imrich Matyáš war Mitglied des Wissenschaftlichen-humanitären Komitees (WhK) und der Weltliga für Sexualreform (WLSR). Ebenfalls war er persönlich mit Magnus Hirschfeld und Kurt Hiller bekannt. Jedoch ist bislang unbekannt, wann und wie er mit Hirschfeld und Hiller in Kontakt trat. Matyáš lud Hirschfeld nach Bratislava ein, und als dieser 1932 eine Vortragsreise durch die Tschechoslowakei unternahm, wurde er von Matyáš begleitet. Wohl im Rahmen dieser Reise und der Begegnungen, die sie mit sich führte, schrieb Matyáš auch einen Artikel für die tschechoslowakische „Zeitschrift für die Interessen der von Wissenschaft und Kulturstaat anerkannten Freundschaft“ „Kamarád“ in Brno. Kurt Hiller und Imrich Matyáš besuchten einander oft, vor allem nach Hillers Flucht aus Nazi-Deutschland nach Prag. So verbrachten sie etwa drei Wochen zusammen auf einer Reise nach Ľubochňa (Slowakei), und sie standen nachweislich bis 1970 in brieflichem Kontakt miteinander.
Für die Zeitschrift „Hlas“ schrieb Imrich Matyáš als einziger Slowake seiner Zeit regelmäßig Beiträge. In ihnen kritisierte er vor allem den Paragrafen 241 des slowakischen Strafgesetzbuches, der homosexuelle Kontakte unter Männern mit Strafe belegte. Er berichtete über Magnus Hirschfeld und Kurt Hiller und kritisierte die römisch-katholische Kirche, indem er darauf verwies, dass die Haltungen der kirchlichen Autoritäten im Widerspruch zu den Lehren Jesu Christi und der Evangelisten stehe. Wie Magnus Hirschfeld ging er davon aus, dass Homosexualität angeboren sei und daher weder bestraft noch geheilt werden könne. Dabei kritisierte Matyáš gelegentlich das Profil von „Hlas“, da er der Überzeugung war, die Zeitschrift müsse sich bemühen, auch Heterosexuelle zu erreichen. Schließlich seien selbst deren geschlechtlichen Beziehungen häufig mit gesellschaftlichen Tabus belegt.
Matyáš verstand sich selbst als einen „progressiven Sozialisten“, wobei er sich gerne mit Kurt Hiller verglich. Neben seinen Veröffentlichungen organisierte er auch Diskussionsveranstaltungen zum Thema Homosexualität, bot kostenlose Beratung für Personen an, die des homosexuellen Verkehrs beschuldigt wurden (bis 1961 ein Verbrechen in der Tschechoslowakei), und verschickte kostenlos Ausgaben der Zeitschrift „Hlas“ an slowakische Politiker, Richter, Ärzte und Wissenschaftler. Insbesondere suchte er aber den Kontakt mit anderen Homosexuellen, die sich wegen ihrer sexuellen Orientierung einer „Behandlung“ unterzogen hatten. Die Notizen, die er sich in diesen Gesprächen machte, nutzte er, um gegen ähnliche Versuche zu argumentieren, mit denen Homosexualität „geheilt“ werden solle. Er betonte, dass die „Patienten“ im Zuge der „Therapien“ lediglich große Geldbeträge verloren und erhebliche geistige wie körperliche Einbußen erlitten.
Nach eigenen Angaben wurde Imrich Matyáš bis 1965 regelmäßig zu polizeilichen Verhören vorgeladen. Insbesondere nach 1948 soll ein Grund dafür die Befürchtung führender homosexueller kommunistischer Parteifunktionäre gewesen sein, er könne über Informationen über sie und ihr Privatleben verfügen und an die Öffentlichkeit bringen. Während der Verhöre versuchte die Polizei unter Androhung körperlicher Gewalt, der Kürzung seiner Rente oder der Zwangsumsiedlung in das ostslowakische Hinterland, die Namen anderer Homosexueller zu erpressen, doch soll Matyáš diesen Erpressungsversuchen stets standgehalten haben.
In der Tschechoslowakei wurde die Homosexualität 1961 entkriminalisiert. Bereits 1950 war das Strafgesetzbuch reformiert worden, aber die Gesetzgebung zur Homosexualität war davon nicht betroffen. 1959 veröffentlichten tschechoslowakische Sexualwissenschaftler unter der Leitung des tschechischen Psychiaters und Sexualwissenschaftlers Dr. Kurt Freund (1914–1996) die Ergebnisse einer Studie, in der sie die Folgen wiederholter „Behandlungsversuche“ an mehreren homosexuellen Männern untersucht hatten. Im Schluss kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Homosexualität nicht „geheilt“ werden kann. Dies wurde von der tschechoslowakischen juristischen wie medizinischen Fachwelt schließlich als ausreichend überzeugendes Argument gegen den Paragrafen 241 akzeptiert, so dass die Gesetzesnovelle von 1961 umgesetzt werden konnte. Zwar war damit eine völlige Gleichberechtigung mit der Heterosexualität nicht erreicht, da das Mindestalter für homosexuellen Geschlechtsverkehr (18 Jahre) drei Jahre über dem für heterosexuellen lag.
Imrich Matyáš beging am 18. Oktober 1974 Selbstmord, indem er sich im Badezimmer seiner Wohnung erhängte. Das Motiv für diesen Schritt ist nach wie vor unklar, möglicherweise waren gesundheitliche Gründe Matyáš‘ ausschlaggebend gewesen. Imrich Matyáš wurde auf eigenen Wunsch nicht auf einem Friedhof beigesetzt. Seine Asche wurde auf einer Wiese des Krematoriums seiner Geburtsstadt Bratislava verstreut.
Veröffentlichungen in „Hlas“:
- Zdravotný radca Dr. Magnus HirschfeId | Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy, 1931 (2), S. 4–5.
- Ministr Dr. Fr. Deák 1803–1876 | Minister Dr. Fr. Deák 1803–1876, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy, 1931 (4), S. 6–8.
- Blamáž Dr. Fr. Kherena [sic] | Die Blamage des Dr. Fr. Kehren, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy [dt. Untertitel: Organ zum Schutz der sexuellen Minderheiten], 1931 (5–6), S. 14–15.
- Hrúza §-u 241 uherského trestního zák | Das Grauen des § 241 im ungarischen Strafgesetzbuch, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy [dt. Untertitel: Organ zum Schutz der sexuellen Minderheiten], 1931 (7–8), S. 10–12.
- Bratislavská vražda dňa 10. III. 1931 | Der Mord von Bratislava am 10. März 1931, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy [dt. Untertitel: Organ zum Schutz der sexuellen Minderheiten], 1931 (9), S. 2–3.
- Jedon rozhovor | Ein Gespräch, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy, 1931 (11), S. 10–11.
- Kristov zastupca pápež Leo IX. rozhodnul o homosexualite | Der Stellvertreter Christi, Papst Leo IX., urteilte über die Homosexualität, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy, 1931 (12), S. 3–4.
- Dr. Kurt Hiller | Dr. Kurt Hiller, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy [dt. Untertitel: Organ zum Schutz der sexuellen Minderheiten], 1931 (13), S. 5–7.
- Karol Heinrich Ulrichs 1825–1895 | Karl Heinrich Ulrichs 1825–1895, in: Hlas sexuální menšiny – zájmy uznávané vědou a kulturními státy, 1931 (16), S. 7–10.
- L’udevít Viktor | Ludwig Viktor (von Österreich), in: Nový hlas – list pro sexuální reformu, 1932 (2), S. 12–14.
- Osvobozovacia akcia Dr. Magnuse Hirschfelda | Der Befreiungskampf Dr. Magnus Hirschfelds, in: Nový hlas – list pro sexuální reformu, 1932 (3), S. 2–6.
- Papež Julius Il. (1503–1515) | Papst Julius II. (1503–1515), in: Nový hlas – list pro sexuální reformu, 1932 (6), S. 3–5.
- 65 let Dr. M. Hirschfelda | Dr. M. Hirschfeld 65 Jahre, in: Nový hlas – list pro sexuální reformu, 1933 (5), S. 72.
- Papež Leo X. | Papst Leo X., in: Nový hlas – list pro sexuální reformu, 1933 (6), S. 88–90.
- K 81 ročným narodeninám Dr. F. Karsch-Haacka | Zum 81. Geburtstag von Dr. F. Karsch-Haack, in: Nový hlas – list pro sexuální reformu, 1934 (9), Cover hinten innen.
- Spomienka na Dr. M. Hirschfelda | In Erinnerung an Dr. M. Hirschfeld, in: Hlas – list pro sexuální reformu, 1936 (1), S. 4–5.
- Morálka „normálných“ | Die Moral der „Normalen“, in: Hlas – list pro sexuální reformu, 1936 (3–4), S. 27–30.
- Trojaké trestné zákony | Dreifache Strafgesetze, in: Hlas – list pro sexuální reformu, 1936 (5), S. 42–43.
- Vydieračstvo, lož, klam a zlodejstvo na postupu | Erpressung, Lüge, Betrug und Diebstahl auf dem Vormarsch, in: Hlas – list pro sexuální reformu, 1936 (6), S. 60–61.
Weiterführende Literatur und Quellen:
- Matyáš, Imrich (1932): Jeden homosexuelný mučedník (Ein homosexueller Märtyrer), in: Kamarád. Časopis věnovaný zájmům přátelství uznaným vědou a kulturními státy (1), S. 7–10.
- Eintrag zu Imrich Matyáš auf Wikipedia (en).
- Queer Memory: Imrich Matyáš – early activist who documented an entire era.
- Website über Imrich Matyáš (slowakisch).
- Ein digitaler Stadtspaziergang durch Bratislava zusammen mit Imrich Matyáš (slowakisch).